COACHING-ZONE
Die Legende der Schonfrist der ersten 100 Tage.
Oder: Der Müll, den Du in den ersten 60 Tagen
nicht wegräumst, gehört Dir.
Onboarding.
66 NEW BUSINESS | OKTOBER 2017
Foto: Beigestellt • Illustration: Claudia Molitoris
N eulich ruft mich ein befreundeter Headhunter
an und fragt mich: „Ich habe da
aktuell einen neuen Vorstand in einem großen
Konzern besetzt. Möchtest Du dem
durch die ersten 100 Tage helfen?“ Meine Antwort:
„Nein.“ Nach einer Schrecksekunde kommt die erstaunte
Replik: „Wieso nicht, willst Du nicht mehr arbeiten?“
Antwort: „Doch und immer gerne. Aber 100 Tage hat
Dein Mandant nicht. Er hat
maximal 60. Und alles, was am
61. Tag an die Oberf läche
kommt, ist keine Altlast des
Vorgängers mehr, sondern
kontaminierter Müll, der dem
Nachfolger zugeordnet wird.“
Den Auftrag habe ich auf dieser
Basis bekommen.
Onboarding ist die Zwillingsschwester
von Retention. Beide
Disziplinen sind Schlüsselfunktionen
in der Personalentwicklung.
Retention (oder
Retainment, wie man in den
USA sagt), ist die Kunst des
Haltens wertvoller Mitarbeiter-
Innen.
Beim Onboarding geht es umgekehrt
um die Schaffung eines
aufnahmefreudigen Biotops
und entsprechender Rahmenbedingungen, die es
einem Neuzugang leicht machen, schnell und sicher
Tritt zu fassen. Die Hauptleistung erfolgt dabei vom
Neueinsteiger selbst. Es geht um rasches und strukturiertes
Erkennen der wichtigsten Parameter, die mit der
Ausübung der (neuen) Funktion verbunden sind. Und
– gleichzeitig (!) – um das beherzte und beinahe rücksichtslose
Erforschen bisheriger Gesetzmäßigkeiten und
Muster, die von den Vorgängern oft diffus eingerichtet
wurden und dem eigenen Erfolg im Wege stehen könnten.
Selbstverständlich sind dabei alle Faktoren auf der
Zahlenebene von allerhöchster Brisanz. Aber auch die
sogenannten „Standards & Procedures“ können unhinterfragte
angezogene Handbremsen wohltemperierter
Komfortzonen sein und den
Keim zukünftiger Desaster
bergen. Und mindestens so
wichtig sind alle Impulse auf
der Ebene der sozialen Kontakte
im neuen Unternehmen.
Ich habe einmal einem Vorstand
geraten, am allerersten
Arbeitstag die Mittagspause
nicht mit den anderen Vorständen
zu verbringen, sondern in
der Kantine mit der Assistentin
zu essen. Das Signal an die
Belegschaft – „Das ist einer
von uns!“ – hat ihm tatsächlich
einen jahrelangen Vertrauensbonus
verschafft.
Plus: Je weiter oben man einsteigt,
umso wichtiger sind
alle Fragen rund um den
persönlichen Verantwortungsbereich.
Wer sich hier der trügerischen Hoffnung
hingibt, die anderen Führungskräfte würden freiwillig
Schlüsselkompetenzen abgeben, kann den Schlüssel
zum eigenen Büro noch während der Probezeit wieder
abgeben.
www.drsonnberger.com
DR. HANNES SONNBERGER, DR. SONNBERGER BUSINESS COACHING
Hannes Sonnberger war viele Jahre in führenden Positionen in Werbeagenturen tätig. Seit 2005 arbeitet er als
zertifi zierter Business-Coach mit den Schwerpunkten Führung, Konfl iktmanagement, Burnout-Prophylaxe und
Teamarbeit. Aktuell erschienen: sein neues Sachbuch „Tool Box“.