INNOVATIVE INDUSTRIE
10 Doch wie war es möglich, dass der Rechner ohne „Kenntnis“
der Materialien so gute Ergebnisse lieferte?
EIN BLICK INS INNERE DES STAHLS
Dafür hilft es, zu verstehen, wie die Stahlproduktion abläuft,
denn sie bildete für diese Studie beispielhaft die Datenbasis.
„Die Herstellung von Spezialstählen ist äußerst anspruchsvoll
und von vielen Faktoren abhängig, angefangen bei der
chemischen Zusammensetzung über das verwendete Walzverfahren
bis hin zu den verschiedenen Wärmebehandlungen.
Jeder Produktionsschritt hat Auswirkungen auf die
inneren Strukturen des Stahls“, erläutert Dominik Britz. Die
Materialwissenschaftler nennen diese Mikrostrukturen
auch Gefüge. Darin grenzen sogenannte Körner oder Kristallite
einzelne Bereiche ab, die eine bestimmte Kristallstruktur
aufweisen, sich aber in ihrer Ausrichtung von den
benachbarten Körnern unterscheiden. Dabei kann nicht nur
die Ausrichtung der Körner, sondern auch deren individuelle
Form und ihre räumliche Verknüpfung von hoher geometrischer
Komplexität sein. „Dieses hochkomplexe Gefüge
wird bei der Materialentwicklung und in der Qualitätskontrolle
durch Mikroskopie-Aufnahmen sichtbar gemacht.
Es wird dafür speziell präpariert und unter Licht- und
Elektronenmikroskopen begutachtet“, erklärt Britz.
Um einen Werkstoff zu klassi zieren, werden die Mikroskopie
Aufnahmen mit Beispielbildern verglichen, die eine
typische geometrische Gefügestruktur aufweisen. Erfahrene
Ingenieure in der Qualitätssicherung von Unternehmen
entwickeln dafür über die Jahre einen genauen Blick, um
NEW BUSINESS • INNOVATIONS | MÄRZ 2018
einzuschätzen, welche Stahlstruktur vorliegt. „Doch auch
ein geübter Experte kann sich täuschen, da die Bildabweichungen
manchmal mit bloßem Auge kaum zu erkennen
sind. Wir Menschen sind recht gut darin, kleine relative
Unterschiede zu sehen, aber wir können nur schlecht absolute
geometrische Standards wiedererkennen“, erläutert
Uni-Professor Frank Mücklich, der die Studie betreut hat.
Daran waren auch Mitarbeiter des von ihm geleiteten Steinbeis
Forschungszentrums für Werkstofftechnik (MECS)
beteiligt.
UNÜBERTROFFENE KLASSIFIKATIONSGENAUIGKEIT
Die Materialforscher suchten nach einem „täuschungssicheren“
objektiven Verfahren, das unabhängig von den
fachlichen Vorkenntnissen des Anwenders eingesetzt werden
kann. „Durch maschinelle Lernmethoden können Computer
sehr schnell komplexe Muster erkennen und die Geometrie
der Mikrostrukturen in Mikroskopie-Aufnahmen
einander zuordnen. Sie können aber auch die Merkmale
von vorher klassifizierten Mikrostrukturen lernen und
diese mit den erkannten Mustern abgleichen“, erklärt Mücklich.
Auf diese Weise konnten die Saarbrücker Forscher die
Mikrostrukturen von kohlenstoffarmem Stahl genau bestimmen,
was bisher in dieser Detailschärfe nicht möglich
war. „Unser System erreicht eine Klassi kationsgenauigkeit
von rund 93 Prozent. Mit den herkömmlichen subjektiven
Methoden konnten kaum mehr als 50 Prozent der Materialproben
korrekt klassi ziert werden “, sagt der Materialforscher.
BO
Fotos: Universität des Saarlandes, Pixabay
Ausgehend von rasterelektronenmikroskopischen
Aufnahmen
(SEM) werden in
mehreren Schritten in einem
sog. Convolutional Neural
Network (CNN) Merkmale
extrahiert und nach einer
Trainingsphase schließlich
unbekannte SEM-Aufnahmen
vollautomatisch hinsichtlich
ihrer Bestandteile
segmentiert und klassifi ziert.