Die Suche nach dem Wellenbrecher

NEW BUSINESS - NR. 7/8, JULI/AUGUST 2022
„The Great Resignation“ nennt sich ein Phänomen, das von den USA aus über den ganzen Globus schwappt. © Adobe Stock/Jairo Díaz

Die weltweite Kündigungswelle hält an. Nach zwei Pandemiejahren ist das Gehalt kein Grund zum Bleiben. Was wollen die Mitarbeiter:innen in Österreich und wie bindet man sie langfristig?

Krisen haben die Kraft, Dinge zu verändern. So haben zweieinhalb Jahre Pandemie Spuren hinterlassen. Sie haben Stärken und Schwächen von Gesundheitssystemen ebenso wie von Entscheidungsträgern offenbart. Und sie haben viele Menschen dazu gebracht, über ihr eigenes Leben, vor allem aber über ihr Berufsleben nachzudenken. Der hierzulande viel zitierte Fachkräftemangel in technischen Berufen, in der Pflege, aber auch im Tourismus ist nur eines von zahlreichen Problemen, mit denen sich der Arbeitsmarkt konfrontiert sieht. Und das nicht nur in Österreich.

„The Great Resignation“ – die große Kündigungswelle – nennt sich ein Phänomen, das von den USA aus über den ganzen Globus schwappt. Laut einer Studie von PwC, „Global Workforce Hopes and Fears“, hält es weltweit eine:r von fünf Beschäftigten für wahrscheinlich, in den nächsten zwölf Monaten den Arbeitsplatz zu wechseln. Die unter 52.000 Arbeitnehmer:innen und in 44 Ländern durchgeführte Umfragen ist eine der größten zum Thema Arbeitsmarktentwicklung.

Laut Studie wollen 35 Prozent ihren Arbeitgeber in den nächsten zwölf Monaten um eine Gehaltserhöhung bitten. Der Wunsch nach einem höheren Gehalt ist für drei Viertel der Befragten auch der Hauptgrund für einen Jobwechsel. Danach zählen die Suche nach einem erfüllenden Job (69 %) sowie das Bedürfnis bei der Arbeit „man selbst sein zu können“ (66 %) zu den Top 3, die Arbeitnehmer:innen suchen. Für knapp die Hälfte ist zudem die Wahl des Arbeitsortes entscheidend.

„Neben dem enormen Bedarf an Möglichkeiten zur Weiterbildung sind Beschäftigte auch auf der Suche nach angemessener Entlohnung. Sie wollen außerdem mehr Kontrolle darüber, wie sie arbeiten, und sie versuchen, größeren Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Führungskräfte müssen sich anpassen, um mit den aktuellen und künftigen Herausforderungen und Chancen erfolgreich umgehen zu können“, erklärt Nicole Prieller, New World New Skills Leader bei PwC Österreich.

Stichwort: Employer Branding
Die Bereiche, in denen derzeit die meisten Kündigungen zu verzeichnen sind, sind die Technologie- und die Gesundheitsbranche, wo Arbeitnehmer:innen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren den Trend anführen. Beim Jobwechsel geht es aber nicht immer nur um Geld. Arbeitszeiten, die zum Familienleben passen, kurze Arbeitswege, interessante Aufgaben – das alles zählt häufig mehr als Geld. Deshalb müssen sich Arbeitgeber mehr für ihre neuen Mitarbeiter:innen einfallen lassen.

„Arbeitsmarkt war gestern. Heute suchen sich die Bewerber ihren künftigen Arbeitgeber aus. Sie ‚ticken‘ anders, haben völlig andere Bedürfnisse und stellen andere Ansprüche“, erklärt Reinhard Krechler, Experte für Employer Branding und E-Recruiting. „Fakt ist: Die Mitarbeitergewinnung hat sich total verändert. Innerhalb der letzten Jahre ist die Suche nach den passenden Bewerbern zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen geworden“, so Krechler, für den der Schlüssel zum Erfolg Employer Branding und Social Recruiting heißt. Dabei geht es um den langfristigen Aufbau einer attraktiven Marke – nicht nur für den Kunden, sondern auch für seine (künftigen) Mitarbeiter. Und das ist unabhängig von der Unternehmensgröße.

„Unternehmen, die es verstehen, ihre eigene Besonderheit als Arbeitgeber zu entwickeln und innerhalb der passenden Bewerberzielgruppe attraktiv zu kommunizieren, werden jetzt und auch in Zukunft ausreichend gute Bewerber finden. Trotz Fachkräftemangel und demografischem Wandel“, ist Krechler überzeugt. 

Das ist insbesondere seit Beginn der Pandemie in den Vordergrund gerückt. Mehr als zwei Jahre der Ungewissheit und der Veränderung haben die Unternehmenskultur – und als zentralen Teil davon die Sinnfrage – noch mehr in den Vordergrund gerückt. Vor allem junge Menschen wollen bei Unternehmen arbeiten, die ihre persönlichen Werte widerspiegeln. Allerdings sehen in österreichischen Durchschnittsunternehmen nur vier von zehn Mitarbeitenden Sinn in der Ausübung ihrer Arbeit. Damit liegt Österreich europaweit auf dem letzten Rang.

„Coronakrise, Klimawandel und nun noch der Krieg in Reichweite – das lässt Menschen nicht kalt. Der Anspruch, die eigene Lebenszeit sinnerfüllt zu gestalten, wächst – auch im Beruf. Arbeitgeber, denen die Übersetzung des positiven Zwecks ihrer Existenz gelingt, tun gut daran, dies klar nach innen und außen zu transportieren, es ist ihr USP, um Mitarbeiter:innen zu binden und zu finden“, bekräftigt Doris Palz, Managing Director von Great Place to Work Österreich, und ergänzt: „Wir wissen schon seit Langem, welche Kraft Zielbilder haben – das Zielbild eines gesunden und lebenswerten Planeten hat magische Anziehungskraft. Wer dies ehrlich ins eigene Businesskonzept integriert, profitiert.“

Auch finanziell. Denn eine Studie der Harvard Business School auf Basis der Datenbank von Great Place to Work, zeigt dass Unternehmen, in denen die Mitarbeiter:innen sinnerfülltes Arbeiten erlebten und zusätzlich der Meinung waren, dass ihre Führungskräfte eine klare Richtung und klare Erwartungen vorgaben, eine um 6,9 Prozent höhere Rendite erzielten als der Aktienmarkt. Dabei sind es weniger die Top-Führungskräfte als vielmehr das mittlere Management, das den größten Einfluss auf die Motivation der Teams hat.

Diese Erkenntnis unterstreicht, wie wichtig es ist, eine effektive mittlere Führungsebene in den Unternehmen zu fördern: Nur Manager:innen, die die Vision des Unternehmens leben und dementsprechend täglich die richtigen Entscheidungen treffen, können es in die erfolgversprechende Richtung lenken. Dass nun die Millennials bzw. die Generationen Y und Z in die Führungsetagen drängen, die im Hinblick auf das Thema Purpose am anspruchsvollsten sind, kann nur von Vorteil sein. 

Nur mehr mit Homeoffice
Genauso wichtig, wie neue Mitarbeiter:innen einzustellen, ist es, sich um die Bedürfnisse der vorhandenen Belegschaft zu kümmern, denn ein Unternehmen mit einem guten Ruf und zufriedenen Mitarbeiter:innen ist für Arbeitssuchende attraktiver. Auch die Experten bei Hogan Assessments, Anbieter forschungsbasierter Beratungs- und Assessment-Lösungen, raten zu mehr Flexibilität der Belegschaft gegenüber. Die Pandemie hat gezeigt, dass Menschen bei der Arbeit von zu Hause aus genauso produktiv sein können wie in einer Büroumgebung.

Zwei von drei Mitarbeitern suchen heute nach flexiblen Arbeitsbedingungen, da sie glauben, dass sie damit produktiver sind. Die Einführung flexiblerer Arbeitszeiten wird ein Unternehmen nicht nur attraktiver für neue Bewerber:innen machen, sondern auch dazu beitragen, den Anforderungen seiner derzeitigen Belegschaft gerecht zu werden. 

In Österreich liegt bei jenen Berufsgruppen, in denen Homeoffice grundsätzlich möglich ist, der Anteil hybrider Jobangebote laut einer Erhebung des E-Recruiting-Unternehmens StepStone deutlich unter 50 Prozent. Auf die Gesamtzahl der Jobanzeigen sind das gerade einmal 14 Prozent. Corona hat dazu beigetragen, dass Remote Work zu einem festen Bestandteil des Arbeitsalltags geworden ist. Bei den Unternehmen ist die Akzeptanz ebenfalls deutlich gestiegen, was sich auch bei der Suche nach Arbeitskräften zeigt: Homeoffice-Nennungen in Stellenanzeigen haben sich seit Beginn der Pandemie verfünffacht, wie die StepStone-Analyse von Print- und Onlinemedien sowie Firmenwebsites seit Beginn der Pandemie belegt.

„Unternehmen verschaffen sich mit hybriden Jobangeboten einen Wettbewerbsvorteil bei der Suche nach qualifizierten Arbeitskräften. Rund 80 Prozent der Beschäftigten wollen nicht mehr ausschließlich vom Büro aus arbeiten, wie unsere Studien und Umfragen deutlich machen. Wer das nicht bereits in der Stellenanzeige anführt, vertut eine Chance“, ist Nikolai Dürhammer, Geschäftsführer von StepStone Österreich sicher.

Beim Angebot gibt es allerdings regionale Unterschiede. In Wien mit Sitz vieler IT-Unternehmen und Unternehmen aus dem Consulting-Bereich ist die Homeoffice-Möglichkeit am größten. In mehr als jedem fünften Jobangebot wird den potenziellen Arbeitnehmer:innen digitales Arbeiten geboten. Mit deutlichem Abstand folgen Oberösterreich (13,5 Prozent) und die Steiermark (11,2 Prozent).

Die ersten 100 Tage
Ist das passende Arbeitnehmer- und -geber-Match gelungen, geht es an die nächste Herausforderung: das Onboarding, oder auf Deutsch: die Einarbeitungszeit. Laut einer Studie von softgarden e-recruiting haben 17,8 Prozent der Bewerber schon einmal während der ersten 100 Tage den neuen Job gekündigt. Hauptgründe waren und sind eine unzureichende Einarbeitung sowie Erwartungen aus der Bewerbungsphase, die in der Realität des neuen Jobs nicht erfüllt werden. Das zeigt eine aktuelle softgarden-Umfrage unter 2.160 Bewerbern.

Der Anteil derjenigen, die schon nach 100 Tagen oder weniger ihren Arbeitgebern wieder den Rücken kehren, ist seit 2018 deutlich gestiegen. Damals betrug er 11,6 Prozent. Das Onboarding wird also zunehmend zur Zitterpartie für Arbeitgeber. Wenn das Angebot an attraktiven Jobs und Arbeitgebern die Nachfrage dauerhaft und deutlich übersteigt, kommt das Onboarding zunehmend einer Bewährungsprobe und Verlängerung des Recruitings gleich: Nach dem Hiring ist vor dem Onboarding!

„Unternehmen investieren heute einen Großteil ihrer Ressourcen in die Gewinnung von neuen Mitarbeitern. Wer dann im Onboarding nicht überzeugt, wird erneut Zeit und Kosten für das Recruiting der gleichen Stelle aufwenden“, sagt Mathias Heese, Geschäftsführer von softgarden: „Dabei sind Mitarbeiter, die von ihren positiven Eindrücken im Onboarding berichten und damit potenziell auch Kandidaten aus ihrem Umfeld begeistern können, die beste Recruiting-Strategie.“

Arbeits- und Fachkräftemangel spitzt sich weiter zu
Einen anderen Zugang zum Arbeits- und Fachkräftemangel hat naturgemäß die Industriellenvereinigung. Die im internationalen Vergleich sehr hohen Lohnnebenkosten belasten den Arbeitsmarkt und den Standort Österreich stark. Österreich liegt laut Eurostat bei den Lohnnebenkosten um mehr als vier Prozentpunkte über dem deutschen Niveau. Diese Belastung wirkt wachstumshemmend und setzt negative Anreize für Beschäftigung. „Es gilt jetzt, wie auch im Regierungsprogramm vorgesehen, Potenziale zur Lohnnebenkostensenkung zu heben und die Lohnnebenkostenlast insgesamt spürbar zu senken“, betont der Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), Christoph Neumayer.

Die Industrie spricht sich wiederholt dafür aus, Anreize zu setzen, um die Mobilität arbeitssuchender Menschen innerhalb Österreichs zu stärken und die passgenaue, überregionale Vermittlung zu forcieren. Auch gilt es beschäftigungsfördernde Maßnahmen, wie Eingliederungsbeihilfe und Kombilohn, weiter zu stärken. Darüber hinaus ist es wichtig, bei Qualifizierungsmaßnahmen darauf zu achten, diese möglichst betriebsnah zu gestalten. „Eine wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung kann es nur geben, wenn es ausreichend Fach-und Arbeitskräfte gibt“, gibt Neumayer zu bedenken.

Die Jobplattform des AMS weist Anfang Juni weit über 250.000 Jobangebote aus und auch beim AMS sind mittlerweile fast 140.000 offene Stellen – wieder um 10.000 mehr als im Mai – gemeldet, was einer noch nie dagewesenen Dimension entspricht. Es handelt sich dabei um mehr als eine Vervierfachung im Laufe der letzten zehn Jahre. In Salzburg übersteigt die Zahl der offenen Stellen bereits die Zahl der beim AMS als arbeitssuchend gemeldeten oder sich in Schulung befindenden Personen.

Auf dem Lehrstellenmarkt gestaltet sich die Situation noch dramatischer, denn in Oberösterreich sind mittlerweile fünf Mal so viele offene Lehrstellen wie Lehrstellensuchende gemeldet und in Salzburg sogar sieben Mal so viele. „Es ist hoch an der Zeit, zu handeln. Die Arbeitslosenversicherung muss dringend reformiert und die Beschäftigungsanreize und die Mobilität gestärkt werden. Eine bloße Erhöhung des ­Arbeitslosengeldes wäre hierfür der falsche Weg“, gibt ­Neumayer zu bedenken. 

Die Menschen wollen kürzer arbeiten
Die Modernisierung der Arbeitswelt bringt leider auch eine zunehmende Spaltung der Arbeitnehmer:innen mit sich. Während gut ausgebildete Berufsgruppen von den Flexibilisierungen profitieren und beruflich aufsteigen können, werden andere abgehängt. Das zeigt ein Blick auf die Entwicklungen des Arbeitsklima-Index in den vergangenen 25 Jahren. Besonders auffällig: Die Zahl der Menschen, die ihre Arbeitszeit verkürzen wollen, ist infolge der Pandemie stark gestiegen.

Für Oberösterreichs AK-Präsident Andreas Stangl liegt es auf der Hand: „Wenn Unternehmen Fachkräfte finden wollen, müssen sie flexibler werden und auf die Bedürfnisse der Beschäftigten mehr Rücksicht nehmen.“ Im Durchschnitt möchten die Beschäftigten in Österreich ihre wöchentliche Arbeitszeit quer durch alle Branchen und Berufe um 2,6 Stunden verkürzen. Gründe, die Arbeitszeit reduzieren zu wollen, sind psychischer Stress, Überstunden und überlange Arbeitszeiten sowie mangelnde Unterstützung durch die Führungskräfte.

„Wenn Unternehmer klagen, dass sie keine geeigneten Fachkräfte finden, sollten sie sich die Ergebnisse des Arbeitsklima-Index zu Herzen nehmen. Denn wenn sie flexibel genug sind, die Erwartungen der Beschäftigten an einen guten Arbeitgeber zu erfüllen, dann werden sie ihre Beschäftigten halten und bei der Personalsuche erfolgreich sein können“, sagt Andreas Stangl. Von den Rahmenbedingungen ihrer Arbeit würden sich viele heute etwas anderes als vor 25 Jahren erwarten, so Stangl, nämlich flexible Arbeitszeiten, mobiles, ortsunabhängiges Arbeiten, wenn möglich ein bis zwei Tage Homeoffice, eine Viertagewoche. Und das bei fairer Bezahlung, gerade in Zeiten massiver Teuerungen. (BS)

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