Die digitale Bildungsrevolution

NEW BUSINESS - NR. 1, FEBRUAR 2017
Bildungsexperten sehen in der Digitalisierungsstrategie des Bildungsministeriums eine große Chance. © Pixabay

Ohne Bildung 4.0 keine Industrie 4.0. Aus diesem Grund geht die im Jänner vorgestellte Digitalisierungsstrategie des Bildungsministeriums nicht nur Schüler, Eltern und Lehrer etwas an, ...

... sondern ist auch für den Wirtschaftsstandort Österreich von Bedeutung.

Haben Sie Kinder? Für Eltern ist der Impuls, einen Artikel über Neuerungen im Schul- und Ausbildungswesen zu lesen, wahrscheinlich größer als für Menschen ohne Kinder. Aber auch ohne eigenen Nachwuchs zu haben, geht das Thema Digitalisierte Schule uns alle etwas an. Denn wenn wir uns über den Fachkräftemangel in Österreich echauffieren, sollten wir gleichzeitig Interesse für eine bestmögliche Bildung unserer künftigen Arbeitnehmer oder Kollegen haben. Denn eine Arbeitswelt, in der neun von zehn Jobs digitale Kompetenzen erfordern, braucht es Menschen mit digitaler Grundausbildung. Daher muss jetzt Bewegung in die Bildungspolitik kommen.

Kritik am altmodischen Schulsystem
Die digitale Transformation ist also voll im Gange. Sie durchdringt alle Lebensbereiche – sowohl Gesellschaft als auch Wirtschaft sind in einem großen Umbruch. Was bisher fehlte, war ein Bildungssystem, das zu diesem Wandel passt. Das wurde in der Vergangenheit bereits mehrfach kritisiert, Bildungsexperten treten schon länger für moderne Lerninhalte und ganzheitliche Umsetzungskonzepte ein, um die Chancen der Digitalisierung zu nützen. Im September letzten Jahres hat etwa die Österreichische Computer Gesellschaft (OCG) die Initiative „Bildung 4.0“ gestartet. Als Partner haben sich der Verband Österreichischer Software Industrie (VÖSI), die Digital City Vienna, ICT Austria sowie die Schweizer Informatik Gesellschaft (SI) angeschlossen.
Auch die Unternehmen IBM, Microsoft und Oracle legten ein klares Bekenntnis zu „Bildung 4.0“ ab. „Wir sehen uns jetzt schon mit der Tatsache konfrontiert, dass die Innovationszyklen um einiges schneller sind als die Ausbildungszyklen“, stellt Markus Klemen, Präsident der Österreichischen Computer Gesellschaft, fest. „Bildung ist ein absoluter Schlüsselfaktor für die Zukunft, neben Lesen, Schreiben und Rechnen brauchen wir auch digitale Kompetenzen“, betont Klemen.
Bildung 4.0 bedeutet Bildung in einer digital vernetzten Welt, die auch den Anforderungen von Industrie 4.0 gerecht wird. „Bildung 4.0 baut auf einem interdisziplinären Konzept der informatischen Bildung auf, die sich auf drei Säulen stützt“, erklärt Univ.-Prof. Gerald Futschek von der TU Wien, anerkannter Informatik-Didaktik-Experte und seit 1989 Vorstandsmitglied der OCG. Als diese drei Säulen nennt er Informatik als exakte, analytische Wissenschaft, ICT-Anwendungskompetenz als Querschnittsdomäne (Anm.: ICT steht für information and communications technology) sowie Medienbildung (eine Domäne der Medienpädagogen).
Die informatische Bildung sei laut Futschek ein ganz wesentliches Element für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. „Leider ist unser Bildungssystem aber im Moment nicht in der Lage, Schülerinnen und Schüler auf die digitale Transformation vorzubereiten“, war sein Fazit im letzten Jahr. „Es kann nicht sein, dass uns Länder wie Estland, Slowakei oder Israel da den Rang ablaufen.“ In allen drei Ländern ist der Informatikunterricht in allen Schulstufen im Lehrplan verankert. Großbritannien hat 2013 das verpflichtende Fach „Computing“ für alle Schulstufen eingeführt.

Heilsbringer „Schule 4.0“?
„Glücklicherweise tut sich in diesem wichtigen Bereich jetzt etwas“, freut sich Klaus Himpsl-Gutermann, Leiter des Zentrums für Lerntechnologie und Innovation (ZLI) an der Pädagogischen Hochschule Wien. Denn kaum ist das alte Jahr verabschiedet, stellt das Bildungsministerium eine Neuerung im Bildungswesen vor – eine Digitalisierungsstrategie namens „Schule 4.0“, für die ein Budget von 13,5 Millionen Euro vorgesehen ist. „Digitale Technologien und Kommunikationskanäle ändern sich rasant und sind nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken. Die Schule muss unsere Kinder mit dem nötigen Werkzeug ausrüsten, um mit diesen Entwicklungen ein Leben lang Schritt halten zu können. Dazu gehört technisches Know-how genauso wie die Fähigkeit, digitale Inhalte kritisch hinterfragen und richtig einordnen zu können. Deshalb haben wir eine Strategie ausgearbeitet, die von der Vermittlung von technischen Fähigkeiten bis zur Medienbildung reicht und die gesamte Schullaufbahn umfasst“, erklärte Bildungsministerin Sonja Hammerschmid im Jänner bei der Präsentation ebendieser. Die Strategie umfasst konkret die digitale Grundbildung ab der Volksschule, die Ausbildung digital kompetenter Pädagogen, die Schaffung adäquater Infrastruktur und IT-Ausstattung sowie das Bereitstellen digitaler Lerntools. Sie soll ab nächstem Schuljahr mit digital bereits erfahrenen Schulen starten und ab Herbst 2018 flächendeckend ausgerollt werden. Wie diese Kompetenzen vermittelt werden – ob es eigene Fächer dafür gibt oder das Know-how in bereits bestehende Fächer integriert wird –, soll jeder Schule selbst überlassen sein. Wichtig sei nur, dass „digitale Grundbildung wirklich verbindlich und ganzheitlich in eine neue Art von Unterricht Einzug findet. Schließlich sollen die Kinder und Jugendlichen zu aktiven Usern werden und die digitale Welt nicht bloß passiv konsumieren“, mahnt Martina Piok, die Sprecherin der Initiative Neustart Schule, die Bewegung ins Bildungswesen bringen möchte.

Zuspruch aus der Industrie
Anklang findet die Strategie in allen Ecken. Die Industriellenvereinigung sieht in ihr etwa „eine dringend erforderliche und somit höchst erfreuliche Strategie“, wie Generalsekretär Christoph Neumayer betonte. Digitalisierung bringe einen rasanten gesellschaftlichen Lern- und Entwicklungsprozess mit sich. Menschen aller Altersgruppen, Milieus und Arbeitsbereiche seien bereits gegenwärtig gefordert, sich mit den dadurch entstehenden Chancen und Herausforderungen auseinanderzusetzen. „Demnach ist es höchst an der Zeit, dass auch das Bildungsministerium dieses Thema aufgreift und flächendeckend angeht“, so der IV-Generalsekretär. „Digitale Kompetenz muss strategisch und professionell in allen Schultypen umgesetzt werden. Wichtig ist, dass die digitale Kompetenz als weitere Kulturtechnik in unserer Gesellschaft erkannt wird und der Fächerkanon der Schule auch zeitgemäße Inhalte wie Digitalisierung und Medien beinhaltet“, so Neumayer. „Als sehr positiv zu bewerten ist, dass sowohl Pädagoginnen und Pädagogen als auch Schülerinnen und Schülern nun endlich voller Internetzugang und IT-Ausstattung zur Verfügung gestellt werden. Dies ist eine unverzichtbare Grundlage, um Neugier, Interesse und Kompetenz von Lernenden für digitale Medien zu fördern und die Chancen der Digitalisierung bestmöglich zu nutzen“, erklärte Neumayer, der allerdings bedauerte, dass „bei aller Breite der Strategie ‚Schule 4.0‘ die Schulen der Sekundarstufe II kaum benannt werden“. Gerade die Schülerinnen und Schüler der berufsbildenden Schulen sowie des Gymnasiums würden in einer digitalisierten Welt leben und seien mit den dadurch möglichen vielfältigen Chancen konfrontiert.

Nächster Schritt: Erwachsenenbildung
Auch die Österreichische Computer Gesellschaft begrüßt die Digitalisierungsstrategie sehr – insbesondere die flächendeckende Ausrollung digitaler Bildung bedeute einen Meilenstein für das österreichische Bildungssystem. „Es geht nicht darum, dass jedes Kind Programmierer werden soll, sondern darum, ein Gesamtangebot für digitale Bildung zu schnüren: Dazu gehört es, ein grundlegendes Verständnis für den Ablauf digitaler Prozesse zu vermitteln, die IT-Anwenderkompetenz gezielt zu fördern und einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien zu vermitteln“, stellt Ronald Bieber, Geschäftsführer der OCG, fest. Wichtig sei es zudem, auch an die Weiterbildung im Erwachsenenbereich zu denken, „wir schlagen eine staatliche Förderung für digitale Weiterbildungsmaßnahmen im Unternehmensbereich vor“, meint Bieber.

Weiterbildung und Hilfe für Pädagogen
Gleichermaßen gelte es nun aber auch, Lehrer für diese Herausforderung sattelfest zu machen: „Viele Lehrer haben regelrecht Angst, sich vor der Klasse zu blamieren, wenn sich zeigt, dass sie nicht perfekt mit Hardware und Software umgehen können, oder noch schlimmer, wenn es kompetentere Schüler gibt“, weiß Bieber aus Gesprächen mit Pädagogen – daher bietet die OCG bereits seit vielen Jahren immer wieder entsprechende Lehreraus- und Weiterbildungs-Programme. In der pädagogischen Ausbildung selbst ändert sich auch einiges: Ab Herbst 2017 erwerben alle neu einsteigenden Lehrpersonen standardisierte digitale Kompetenzen, die sie in Form eines Pflichtportfolios nachweisen. Für den modularen Lehrgang im Ausmaß von sechs ECTS haben sie ab Schuleintritt drei Jahre Zeit. Alle Pädagogen, die bereits im Berufsleben stehen, können diesen Lehrgang auch als Fort- und Weiterbildung besuchen. Zusätzlich werden die Angebote der virtuellen Pädagogischen Hochschule ausgebaut.
Ebenfalls hilfreich, ist das als vierte Säule der Digitalisierungsstrategie des Bildungsministeriums verstandene Angebot von digitalen Lerntools. Geplant ist demnach ein Portal für digitale Lehr- und Lernmaterialien, das sich Eduthek nennen wird. Dort finden Lehrer eine Vielzahl an Content- und Medienangeboten, wie pä­da­gogisch empfohlene Apps und Spiele sowie innovative Tools für moderne Unterrichtsformate.

„Flippige Schule“: Vom Lehrer zum Coach
In digital bereits fortgeschrittenen Schulen stößt man schon auf verschiedene Modelle, an denen sich noch eher unsichere Schulen orientieren könnten. So setzt Josef Buchner, Lehrender an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich, in seinem Geschichtsunterricht im Wiener Polgargymnasium das Konzept der „Flipped Classrooms“ in die Praxis um. Dabei gibt er den Schülern im Vorfeld des Unterrichts Videos mit, anhand derer sie ein neues Thema erarbeiten können. Diese sehen sich diese Videos zuhause an und erlernen so den neuen Inhalt. Auf die Art können sie sich individuell mit einem Thema auseinandersetzen, je nachdem, wie schnell sie den Inhalt verstehen. Und im Unterricht bleibt dann Zeit, um Übungen durchzuführen. Die Lehrkraft wird zum Coach und kann individuell unterstützen. „Der Beruf des Lehrers wird sich durch die Digitalisierung ändern. Wir sind nicht mehr die Wissensvermittler, sondern wir bieten den Schülern einen Rahmen, in dem sie sich individualisiert Wissen aneignen können“, ist Stefan Schmid, Pädagoge und Mit-Initiator von Flipped Classrooms Austria, überzeugt. Auf die Weise können sich Lehrer auch besser auf ihre pädagogischen Aufgaben konzentrieren, anstatt wie bisher mit der reinen Wissensvermittlung beschäftigt zu sein. „Die Methode ist effizient, lässt einen individueller auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen und macht Spaß. Schon jetzt bilden sich auf Eigeninitiative 30.000 PädagogInnen an der virtuellen Pädagogischen Hochschule digital und innovativ aus“, erzählt Schmid aus seiner jahrelangen Praxiserfahrung. Im Flipped Classrooms-Blog finden sich übrigens zahlreiche Beiträge zu Erfahrungen aus der Praxis, Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft, Tools, Tipps und Tricks sowie Veranstaltungsempfehlungen (www.flipped-classroom-austria.at). Es gibt auch schon großes Interesse und viele Anfragen aus anderen Ländern wie Deutschland, Luxemburg oder Spanien.
Neue Anreize für die Wissensvermittlung liefern auch Lernspiele, da spieltypische Elemente die Lernmotivation steigern können. „Spiele eröffnen enormes Lernpotenzial. Kluge Lernsoftware allein reicht jedoch nicht aus. Lehrende müssen zwischen virtueller und realer Welt eine Verbindung herstellen, damit der Transfer gelingen kann“, ist Konstantin Mitgutsch, Medienpädagoge und Gründer von „Playful Solutions“, überzeugt.

Demokratisierung und Personalisierung der Bildung
Auch Bildungs- und Digitalisierungsexperte Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, sieht eine enorme Chance in der Bildungsoffensive, ermahnt aber, dass digitale Bildung mehr sei als nur Smartboards und Apps: „Es müssen sinnvolle pädagogische Konzepte dahinterstecken!“ Die größten Chancen sieht er dabei in der Demokratisierung und der Personalisierung der Bildung. Mit ersterem meint Dräger, dass Bildung durch die Digitalisierung für Menschen geöffnet wird, die bisher weniger Chancen hatten, daran teilzuhaben. Als Beispiel bringt er ein Experiment aus der US-amerikanischen Eliteuniversität Stanford. Hier wurden die Folien einer Vorlesung, die zuvor etwa 50 zahlenden Studenten zur Verfügung standen, gratis ins Netz gestellt. Die Prüfung stand ebenfalls allen Menschen, die sich anmeldeten, kostenlos offen. 161.000 Anmeldungen trafen ein, 23.000 Menschen haben bestanden. Das Verblüffende: Der beste Stanford-Student, der regulär zahlte (etwa 25.000 Dollar Studiengebühren im Semester), fand sich auf Platz 413 wieder.
Mit Personalisierung der Bildung meint der Bildungsexperte, dass die Digitalisierung das Potenzial birgt, intelligente Systeme zu entwickeln, die sich auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einstellen und individuelle Lernwege ermöglichen und somit eben Bildung personalisieren. Nicht für alle das Gleiche, sondern für jeden das Passende. „Wir müssen die Digitalisierung aktiv mitgestalten und sie in den Dienst der Pädagogik stellen. Wenn das gelingt, hat Digitalisierung das größte Potenzial, Hauptanliegen wie Chancengerechtigkeit oder Individualisierung zu ermöglichen.“ (VM)

Interessante Links zum Thema:
www.bmb.gv.at
www.ocg.at
www.flipped-classroom-austria.at
www.playfulsolutions.net
neustart-schule.at
www.virtuelle-ph.at

INFO-BOX
Die vier Säulen der Digitalisierungsstrategie „Schule 4.0“


Säule 1 – Digitale Grundbildung ab der Volksschule:
Bereits in der Volksschule wird spielerisch der Umgang mit Technik vermittelt und Medienbildung unterrichtet. Digitale Grundbildung wird in den Lehrplänen verankert, wobei der Schwerpunkt auf der dritten und vierten Schulstufe liegt. Von der fünften bis zur achten Schulstufe wird eine verbindliche Übung „Digitale Grundbildung“ mit einem eigenen Lehrplan im Ausmaß von zwei bis vier Wochenstunden eingeführt. Ob die Umsetzung integrativ in bereits bestehenden Fächern oder als eigener Gegenstand erfolgt, wird schulautonom entschieden.

Säule 2 – Digital kompetente Pädagogen:
Ab Herbst 2017 erwerben alle neu einsteigenden Lehrpersonen standardisierte digitale Kompetenzen, die sie in Form eines Pflichtportfolios nachweisen. Für den modularen Lehrgang im Ausmaß von 6 ECTS haben sie ab Schuleintritt drei Jahre Zeit. Alle Pädagogen, die bereits im Berufsleben stehen, können diesen Lehrgang auch als Fort- und Weiterbildung besuchen. Zusätzlich werden die Angebote der virtuellen Pädagogischen Hochschule ausgebaut.

Säule 3 – Infrastruktur und IT-Ausstattung:
Derzeit verfügen in den Bundesschulen 96 Prozent aller Klassenräume über ­einen Internetzugang, an den Pflichtschulen sind es 78 Prozent. Das Bundesministerium für Bildung hat deshalb gemeinsam mit dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie eine Breitbandoffensive für Pflichtschulen geplant. Mittelfristiges Ziel des BMB ist außerdem die jährliche Ausstattung aller 86.000 SchülerInnen der fünften Schulstufe mit Tablets und aller 84.000 SchülerInnen der neunten Schulstufe mit Laptops. Das erfolgreiche Mobile-­Learning-Projekt, bei dem Tablets im Unterricht eingesetzt werden, wird in der Volksschule ausgeweitet.

Säule 4 – Digitale Lerntools:
Mit der Eduthek wird ein Portal für digitale Lehr- und Lernmaterialien geschaffen. Sie bündelt eine Vielzahl an Content- und Medienangeboten und macht sie über einen zentralen Einstieg zugänglich. Das inhaltliche Angebot soll Lehr- und Lernmaterialien, pädagogisch empfohlene Apps und Spiele sowie innovative Tools für moderne Unterrichtsformate umfassen.