Rechtzeitig nachdenken

NEW BUSINESS Guides - IT- & DIGITALISIERUNGS-GUIDE 2023
Seit etwas mehr als einem Jahr ist Marco Porak Geschäftsführer von IBM Österreich. © Pepo Schuster/IBM

So wie sich die Möglichkeiten von Technologie verändern, verändern sich auch die Unternehmen, die sie anwenden. Aber auch jene, die Produkte und Lösungen anbieten ...

... und bereits intensiv über die IT-Zukunft nachdenken, befinden sich in Transformation – wie IBM.

Seit Oktober 2021 ist Marco Porak Geschäftsführer – oder, wie auf seiner Visitenkarte zu lesen ist, Generaldirektor – von IBM Österreich. Er steht bereits mehr als zwei Jahrzehnte in den Diensten von „Big Blue“, einem der wohl geschichtsträchtigsten Unternehmen der Informationstechnologie. Porak ist mit Herz und Seele „IBMer“ – und das bereits in zweiter Generation.

Bevor er auf dem Chefsessel Platz genommen hat, leitete er den Technologiebereich von IBM Österreich und unterstützte Kunden bei der digitalen Transformation. Marco Porak versteht also das Geschäft bis hinunter auf die Ebene der Bits und Bytes.

NEW BUSINESS hat sich mit ihm über die Transformation, die bei IBM selbst stattfindet, aber auch über die Implikationen moderner Technologien wie Cloud, künstliche Intelligenz und Quantencomputing unterhalten.


Herr Porak, nicht umsonst trägt IBM den Beinamen „Big Blue“. Der ­Konzern war schon immer sehr umfangreich. In der Zwischenzeit hat sich IBM aber fokussiert. Laptops und Desktop-PCs etwa sind schon längst nicht mehr Teil des Geschäfts. Erst kürzlich wurde Kyndryl abgespalten, die sich mit dem Betrieb von IT-Infrastruktur beschäftigen. Wo liegen heute die Schwerpunkte von IBM?
Um es zusammenzufassen: Die Schwerpunkte der IBM liegen in hybrider Cloud und künstlicher Intelligenz. Das sind die zwei Kernthemen, mit denen wir uns beschäftigen, hinter denen sich aber viel verbirgt. Man muss, um die heutige IBM zu verstehen, zwei, drei Meilensteine und, sagen wir mal, strategische Ausrichtungen ver­stehen können. 

Wir haben 2019 die Firma Red Hat um etwa 34 Milliarden Dollar gekauft. Es war eine ganz bewusste und, wie sich gezeigt hat, unheimlich clevere strategische Entscheidung, ein Open-Source-Unternehmen zu kaufen, das nicht nur Marktführer mit Enterprise Linux ist, sondern vor allen Dingen ein Produktportfolio rund um das Thema Open Shift mitbringt, das man als „Betriebssystem“ für die hybride Cloud ver­stehen kann. 

Wieso war diese Akquisition so ­wichtig für IBM?
Besonders hybride Cloud-Umgebungen sind manuell de facto nicht zu managen. Genau dafür braucht man Open Shift und die umgebenden Automatisierungsmechanismen. Einerseits von Red Hat selbst, aber auch von IBM. Wichtig ist auch, dass wir Red Hat nicht in die IBM-Brand integriert haben. Es ist zwar eine hundertprozentige Tochter der IBM, ist aber ganz bewusst ein eigenständiges Unternehmen. Warum? Weil diese Idee der hybriden Cloud per se nur funktionieren kann, wenn man eine Plattform baut.

Wir können eine hybride Cloud nicht alleine machen. Das wäre paradox. Wir wollen mit unseren großen Partnern wie zum Beispiel Microsoft oder AWS zusammenar­beiten, die wiederum ihre eigenen Cloud-Angebote haben, und über unser Red Hat Open Shift verschiedene Clouds miteinander verbinden. Hätten wir Red Hat integriert, wäre das tendenziell verloren gegangen. Diese Unabhängigkeit als Plattformprovider wollen wir unbedingt erhalten. 

Das ist der eine Punkt. Und der zweite Punkt ist der Spin-off von Kyndryl, der Ende 2021 mit dem IPO von Kyndryl auch formell abgeschlossen wurde. Da haben wir knapp 90.000 Mitarbeitende in eine eigene Company bewegt, die zum Zeitpunkt des Spin-offs 19 Milliarden Dollar an Umsatz gemacht hat. Wir haben uns bewusst entschieden, Kyndryl nicht zu einer Tochter zu machen, sondern wirklich am Markt zu etablieren. Es gibt keinerlei gesellschaftsrechtliche Verbindung und keinerlei gegen­seitiges Ownership.

Warum dieses Spin-off von Kyndryl?
Wir wollen uns sehr viel stärker auf unsere ­Herkunft als Technologieunternehmen konzentrieren. Wir bestehen seit dieser Transformation de facto aus zwei wesentlichen Teilen. Das eine ist IBM Technologie, und das andere ist IBM Consulting. 

Auf der Technologieseite stehen, vereinfacht gesprochen, Hardware, Software und Cloud. Also auch unsere eigene IBM Cloud als Public-Cloud-Angebot. Aber natürlich auch sämtliche Tools, zum Beispiel Red Hat, und natürlich unsere Cloud Paks. Und auf der anderen Seite Consulting, also unsere Consultants, die einerseits auf Basis unserer Technologie, aber auch auf Basis der Technologie Dritter ihr Services-Geschäft betreiben. Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Unternehmensteilen finde ich wirklich sehr, sehr spannend. Wir sind unter den großen IT-Häusern und Consultinghäusern der Welt das einzige, das aus dem eigenen Haus diese beiden Seiten so massiv abbildet. 

Was ich an der Zusammenarbeit besonders spannend finde, ist, dass sowohl die IBM Technologie mit IBM Consulting arbeitet, aber auch mit dritten Services-Partnern und mit Dritten in unserem Ökosystem, als auch IBM Consulting mit unserer Technologie arbeitet, aber auch mit der Technologie Dritter. Sonst wäre es auch kein Consultinghaus. Das ist eine Partnerschaft im Unternehmen, die gerade in Österreich, wo wir eine verhältnismäßig kompakte Landesorganisation sind, exzellent funktioniert.
 
Dieser Gedanke der IBM – weg von ­Produkten und hin zu Einem Ökosystem und einer Plattform – ist wirklich spannend. 
Das ist ein superwichtiges Thema für uns, ­speziell in diesem Jahr und darüber hinaus. Sie haben aber gesagt, weg vom Produkt in Richtung Ökosystem, da möchte ich ein bisschen korrigierend eingreifen. Das widerspricht sich ja nicht. Gerade auf der Technologieseite werden wir in Zukunft auch wieder einen stärkeren Produktfokus haben. Auf der kommunikativen und Marketingseite wird man merken, dass die Produkte auch wieder im Vordergrund stehen werden. Genau diese Produkte sind sozusagen das Zentrum der Idee, wie wir mit dem Öko­system auch an den Markt gehen wollen.

Wir sind stolz auf eine jahrzehntelange ­Tradition, nicht nur in Österreich, sondern auch international, mit unseren Businesspartnern zusammenzuarbeiten. Wir wollen das aber deutlich erweitern und stärken, weil die Dynamik in dem Markt mit dem Reach eines Ökosystems viel besser adressierbar ist, als man das als einzelnes Unternehmen tun kann. Dieses Ökosystem besteht aus sehr großen weltweiten Partnern, aber auch aus sehr spezifischen, ­spezialisierten, kleineren, mittleren und großen Partnern in den Ländern, wie auch in Österreich, die wirkliche Experten in einzelnen ­Feldern sind. 

Wie stärken Sie denn die Zusammen­arbeit mit Ihren Partnern?
Wir sind gerade dabei, mit unseren Partnern neue Modelle zu entwickeln. Da kriegen wir begeisterte erste Reaktionen. Wir können dann beispielsweise mit drei Partnern mit unterschiedlichen Spezialisierungen bei einem Kunden gemeinsam eine Lösung bauen. Das ist die Art und Weise, wie wir mit dem Ökosystem umgehen wollen.

Anfang Jänner haben wir, um diesem Vorhaben gerecht zu werden, ein komplett neues Partnerprogramm angekündigt. Das nennt sich IBM Partner Plus. Es ist vor allem dadurch geprägt, dass die Zusammenarbeit mit der IBM für den Partner wesentlich vereinfacht wurde. Neben vielen anderen Dingen halte ich für besonders wichtig, dass es darauf abzielt, dass sich Partner zertifizieren, ihre Skills ausbilden, an IBM-Schulungsprogrammen teilnehmen und dafür belohnt werden. Je stärker sie zertifiziert und geskillt sind, desto mehr können wir den Level der Partnerschaft erhöhen. Wir wollen unsere Partner dazu motivieren, sich mit unserem ­Portfolio auseinanderzusetzen. Und wir ­wollen damit natürlich auch neue Partner akquirieren.

Weil Sie Skills und Zertifizierung gesagt haben: Ich habe gesehen, dass Sie in den letzten Tagen selbst ein, zwei neue Zertifizierungen abgelegt haben.
(lacht) Sie haben auf meinem LinkedIn-Profil gestöbert. Wir haben im letzten Drittel des vergangenen Jahres eine sogenannte Skills Challenge eingeführt. Dahinter verbirgt sich im Wesentlichen, dass wir ein rollenspezifisches Ausbildungsprogramm zusammengestellt haben. Das sind viele Kurse, die in einigen Bereichen auch mit Badges und Zertifizierungen bestätigt werden. In der Gesamtheit ist das so eine Art Technology-Excellence-Ausweis. 

Jetzt mag man sich vielleicht wundern, wieso ein Country General Manager dann plötzlich einen IBM-Instana-Expert-Batch veröffentlicht. Das liegt einfach an unserer Einstellung zu dem ­Thema. Erstens einmal muss auch ein Country General Manager beim Kunden mehr als nur die erste Frage beantworten können. Unsere Kunden erwarten sich auch, dass ich da jetzt nicht sozusagen der Frühstücksdirektor bin, sondern auch technische Expertise mitbringe. 

Und zweitens halte ich es für wichtig, von meinen Teams nicht etwas zu verlangen, was ich nicht selber machen würde. Und deshalb möchte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Ich nehme das sehr, sehr ernst. Mir fällt es aber nicht allzu schwer, weil ich ja von meiner Herkunft her ein Techniker bin und das auch nie ganz abgelegt habe.

Ich würde gerne zum ­Thema KI umschwenken. IBM gehört mit Watson zu den KI-Pionieren, hat schon in den 1990ern eine KI ins Rennen gegen den Schachweltmeister geschickt und später Watson bei „Jeopardy“ antreten lassen. Dann war es in der Öffentlichkeit eine Zeit ruhiger um das Thema. Mit ChatGPT und Co. ist gerade eine neue Welle im Rollen. Warum jetzt?
Ich verstehe, dass Sie das so formulieren. Wir haben mit diesem gewonnenen „Jeopardy“-Spiel zum Beispiel unsere Watson-Brand sehr wirksam am Markt positioniert. Ausgehend von diesen Meilensteinen hat die KI (künstliche Intelligenz, Anm.) Einzug in fast alle unsere Produkte gehalten. Ein Stück Watson steckt in mehr oder weniger jedem IBM-Produkt. Und das gilt sowohl auf der Softwareseite, zum Beispiel für unsere Datenbankprodukte, als auch für unsere Hardwareprodukte.

Unser jüngster Mainframe z16 hat KI als Chip on Board. Ähnliches gilt für unsere Power-Systeme und so weiter. Dann gibt es noch einige Produkte, die weiterhin explizit die Watson-Brand tragen, die wirklich AI (Artificial Intelligence, Anm.) in Reinkultur sind. Und last but not least gibt es natürlich eine ganze Reihe an KI-basierten Services aus unserer Cloud. 

Warum jetzt? Ich glaube, durch ChatGPT gibt es einfach einen medialen Hype, mit allen Pros und Cons. Aber ich glaube nicht, dass es „jetzt“ ist – das ist vielleicht die öffentliche Wahrnehmung –, sondern es ist ein stetiger Prozess, der uns die letzten Jahre begleitet hat und sicher noch viele Jahre begleiten wird und der auch mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit werden wird.

Wir merken auch, dass die Akzeptanz von KI, das Vertrauen in KI, die Skill-Levels hinsichtlich KI bei unseren großen Kunden über die letzten Jahre deutlich zugenommen haben. Man genießt die Vorteile der KI, ohne täglich darüber nachzudenken, wie die KI im Einzelnen funktioniert. 

Wo genießt man diese Vorteile denn schon? Geben Sie uns doch bitte ein paar Beispiele.
Ich fange mit Customer-Care an, also dem Kontakt des Unternehmens mit seinen Kunden, insbesondere im B2C-Bereich. Da haben Sie in den Call-Desks, in den Omni-Channel-Kontakten Herausforderungen wie Fachkräftemangel, eine hohe Fluktuation, lange Schulungen, zum Teil repetitive Aufgaben und damit insgesamt hohe Kosten für Unternehmen, die ihre Kunden so betreuen.

KI-basierte Systeme können helfen, die Effizienz enorm zu steigern. Wichtig dabei ist: Die Menschen sollen nicht ersetzt, sondern unterstützt werden. Ein zweites Feld ist die mit der Cloud entstandene Dynamik hinsichtlich des Betriebs, aber auch hinsichtlich der Sicherheit. Sie haben in den komplexer werdenden Systemen mit all ihren Vorteilen keine Chance mehr, die Dinge manuell zu managen. Sie brauchen letztlich ein AI-basiertes System, das ihnen diese Komplexität managt. Noch ein letzter Punkt – aber ich könnte noch zehn ­weitere nennen – ist das Thema Business-Automation, wo es wirklich darum geht, den Geschäftsprozess zu automatisieren. 

Wenn Sie sagen, es ist eine kontinuierliche Entwicklung, dann ist die aber nicht linear, oder? Ich habe das Gefühl, dass eine gewisse kritische Masse, eine gewisse Sättigung erreicht ist. Stehen wir an einer Schwelle, oder haben wir einen Knackpunkt in Sachen KI erreicht?
Ich kann nur mein Bauchgefühl wiedergeben. Ich glaube nicht, dass wir schon einen Zenit oder einen Knackpunkt erreicht haben. Ich denke, dass die KI-Algorithmen noch wesentlich besser werden. Es mag schon sein, dass trivialere Anwendungsfälle irgendwann einmal einfach fertig sind, wenn Sie so wollen.

Aber denken Sie an das Thema autonomes Fahren, was da noch alles kommen wird. Dass heute ein Auto einparken oder die Spur wechseln kann, ist beeindruckend. Aber es gibt kein Auto, dem ich sagen kann: „Ich möchte jetzt gerne meinetwegen nach Linz zum Europaplatz.“ Da ist noch so viel zu tun und so viel zu erforschen. 

Im Zusammenhang mit KI werden auch immer wieder ethische und moralische Fragen aufgeworfen. Wie steht die IBM zu diesem Thema?
Wir sind sicher ein Vorreiter in der Technologie, und genau deshalb haben wir auch ein hohes Verantwortungsbewusstsein, was das betrifft. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Einerseits haben wir eine Handvoll Open-Source-Algorithmen veröffentlicht – unter dem Stichwort IBM AI Ethics. Die sind in der Lage, Entscheidungen von AI-Engines nachvollziehbar zu machen.

Eines der großen Probleme von AI ist Bias. Wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen: crap in, crap out. Das gilt in der IT immer. Bei AI wird es aber problematisch, weil ich den „crap out“ – das Ergebnis – nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehen kann. Eben deshalb haben wir Algorithmen veröffentlicht, die Entscheidungen von KI nachvollziehbar machen und bewusst dafür gedacht sind, diesen Bias in den Entscheidungsprozessen der KI zu erkennen und auch zu ­verhindern.

Wir sind uns unserer Verantwortung auch insofern bewusst, als wir uns entschieden haben, aus bestimmten KI-Geschäftsbereichen auch wieder auszusteigen. Berühmtestes Beispiel ist unsere Face-Recognition. Das war wirklich ein spannendes und umsatzträchtiges Geschäftsfeld. Aber einerseits gab es genügend Diskurs darüber, wie sehr Face-Recognition auch „biased“ sein kann. Da hatten wir kein gutes Gefühl dabei. Und viel schlimmer ist: Face-Recognition in den falschen Händen kann wirklich weitreichende Konsequenzen haben. Wir haben das Produkt vom Markt genommen. Uns ist wichtig, dass AI als Tool für Menschen verstanden wird. Nicht um Menschen zu ersetzen, sondern um ­Menschen freizuspielen für andere, wichtigere Themen an ihren individuellen Positionen in Unternehmen. 

Welche Anwendungsfelder für AI sehen Sie in Zukunft noch? Unzählige, wahrscheinlich. Aber welche sind für Sie am spannendsten?
Das ist natürlich unheimlich branchenabhängig. Ich gebe Ihnen ein interessantes Beispiel aus – darauf bin ich wirklich stolz – unserer österreichischen Entwicklung. Wir haben ein Offering namens MLA entwickelt. Das steht für Medical Linguistic Asset und ist im Wesentlichen eine KI-Engine, die medizinische Sprache spricht. Was kann man damit machen?

Ärzte und Ärztinnen sind verpflichtet, bevor sie Sie oder mich behandeln, alles an Information über sie zu lesen, was zur Verfügung steht. Früher stand das vielleicht auf Karteikarten, die sich der Arzt schnell durchgelesen hat. Heute liegen die Informationen in ELGA und anderen digitalen Informationssystemen vor. Es ist nicht zumutbar und auch nicht realistisch, dass eine behandelnde Ärztin oder ein Arzt all das lesen kann.

Eines der Anwendungsfelder von MLA ist ein sogenanntes Patient-Summary. Wenn sich ein Patient mit Husten und Schnupfen vorstellt, dann ist die Lungenentzündung von vor zwei Jahren interessant für den Arzt, aber die Knieoperation von vor zehn Jahren vermutlich nicht. Man kann also dem Arzt etwas an die Hand geben, worauf er Wert legen soll. Noch gravierender wird es, wenn jemand bewusstlos in ein Unfallkrankenhaus gebracht wird und operiert werden muss, und sich die Frage stellt, ob er auf etwas, Penicillin beispielsweise, allergisch reagiert. Dann kann es lebensrettend werden. 

Zusätzlich geht es darum, dass unsere Ärzte, bildlich gesprochen, den ganzen Tag in den Spitälern Menschen behandeln und dann abends dasitzen und ihre eigenen Reports codieren, um Leistungen mit der Sozialversicherung abzurechnen. Das ist keine schlaue, sinnstiftende Verwendung der Zeit und Kenntnisse dieser Expertinnen und Experten. AI kann das nachweisbar besser als ein Arzt nach einem langen Tag in der Ordi oder im OP – bei allem Respekt. Da können wir Menschen Arbeit abnehmen; da können wir ihnen repetitive Tätigkeiten abnehmen und sie sich darauf konzentrieren lassen, wofür sie studiert haben und wofür sie brennen. Es gibt unzählige Ideen für den Einsatz von AI. Das war nur ein Beispiel dafür, womit wir uns auch in Österreich beschäftigen.

Ein anderes Feld, auf dem IBM zu den Vorreitern zählt, ist Quanten­­computing. Gibt es da auch ­Berührungspunkte zu AI bzw. KI?
Ich glaube, dass das Thema AI – Machine-Learning generell – durch Quantencomputing noch einmal eine enorme Beschleunigung erfahren wird. AI und Machine-Learning sind eines der Felder, wo Quantencomputing der Meinung unserer Experten und auch meiner Meinung nach eine entscheidende Rolle spielen wird. Einfach weil die Performance bei gewissen AI-Berechnungen viel besser ist. Ich glaube, man darf mit Fug und Recht behaupten, IBM ist im Thema Quantum-Computing per se ein absolut führendes Technologieunternehmen.

Wir haben auch eine sehr konkrete Roadmap dafür, wie wir Quantum Computing weiterentwickeln. Wir haben Ende letzten Jahres unseren 433-Qubit-Chip präsentiert, und dieses Jahr kommt noch ein Chip mit über 1.000 Qubits. Wir kommen dann in eine nächste Generation und werden mehrere Quantenchips zusammenschließen, um die Leistungsfähigkeit noch einmal zu erhöhen. Damit bewegen wir uns in wirklich großen Schritten auf einen Status zu, wo Quantum-Computing produktiv einen Unterschied bei unseren Kunden machen wird.

Reden wir bei diesem Schritt in die ­Produktivität, von dem Sie gesprochen haben, von Dekaden oder von Jahren?
Mit Vorhersagen muss man immer sehr vorsichtig sein. Da haben sich schon wesentlich berufenere Menschen als ich massiv geirrt. Ich persönlich meine, wir reden nicht über Dekaden, sondern über Jahre – zwei Jahre, vier Jahre, irgendwo in dieser Größenordnung. Mir ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass Quantum herkömmliche Rechner nicht ersetzen wird. Das halte ich für totalen Unsinn. Es wird eine Koexistenz geben.

Gewisse Probleme sind mit traditionellen Prozessorarchitekturen deutlich besser lösbar, heute und morgen und über­morgen auch, als mit Quantum-Computing. Und dann gibt es aber andere Probleme, die mit traditioneller Architektur entweder gar nicht adressierbar oder gar nicht lösbar sind, die mit Quantum aber abbildbar sind. 

Wir haben in Österreich einen Anwendungsfall mit Erste Bank, die entschieden haben, sich damit zu befassen, und in das IBM Quantum Network eingetreten sind. Sie beschäftigen sich mit Betrugserkennung, der Beschleunigung von Entscheidungsprozessen und ähnlichen Fragestellungen. Ein super Anwendungsfall ist aus meiner Sicht auch das Thema personalisierte Medizin, beispielsweise Krebsmedikation, die bis hin auf DNA-Level sehr spezifisch für einzelne Personen produziert werden muss. 

Es ist richtig und gut, dass sich einige unserer namhaften Kunden bereits jetzt mit dem Thema auseinandersetzen. Einfach um Wissen aufzubauen, rechtzeitig dran zu sein und Use-Cases für sich zu finden. Wir unterstützen das als IBM mit unserem IBM Quantum Network. Es besteht in der Zwischenzeit aus weltweit rund 200 teilnehmenden Unternehmen, Institutionen und Universitäten, auch im DACH-Raum, die mit uns gemeinsam forschen.

Es erfüllt mich mit unheimlichem Stolz, dass wir die Beschäftigung der Experten mit dem Thema ermöglichen, vorantreiben und aktiv fördern. Wir sind nicht ewig weit weg vom Einsatz der Technologie, und deshalb ist es wichtig, dass wir uns jetzt damit beschäftigen, und zwar mit allen großen Vorteilen, aber auch mit allen potenziellen Gefahren. 

Welche Gefahren sieht IBM denn? ­Meinen Sie Verschlüsselung?
Ja – und auch da übernimmt IBM Verantwortung. Wir wollen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, wie man sich vor diesem zukünftigen Bedrohungsszenario absichern kann. So haben wir zum Beispiel quantensichere Kryptografie-Algorithmen entwickelt. Das NIST (National Institute of Standards and Technology, Anm.) hat im vergangenen Juli nach einem sechsjährigen Auswahlverfahren vier Algorithmen ausgewählt, die bis 2024 zu den ersten Standards für quantensichere Kryptografie werden sollen. Drei von diesen vier Algorithmen wurden von IBM mitentwickelt. Die sind Open Source, jeder kann sie verwenden. Gleichzeitig kommt schon jetzt in unserer aktuellen Technologie, da bin ich wieder bei unserem IBM z16 Mainframe, quantensichere Kryptografie zum Einsatz.

Nun kann man sich fragen, wenn da noch Jahre hin sind, warum schon jetzt? Ganz einfach weil die Gefahr bestünde, dass jetzt herkömmlich verschlüsselte Daten abgesaugt werden und in einigen Jahren Personen, die es nicht gut meinen, dann diese jetzige verschlüsselte Informa­tion mit zukünftigen Technologien entschlüsseln. Fachleute nennen dieses Szenario „Heute ernten, morgen entschlüsseln“. Und deshalb raten wir schon heute dazu, quantensicher zu verschlüsseln, weil es nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Datenernte bereits begonnen hat. (RNF)


INFO-BOX
Zur Person
Marco Porak wurde Ende 2021 zum Geschäftsführer von IBM Österreich ernannt und folgte damit auf Patricia Neumann. Porak besitzt umfassende Branchenkenntnis im öffentlichen und Finanzsektor und mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung bei IBM. Er ist Magister der Betriebswirtschaft von der Wirtschaftsuniversität Wien und Patenthalter aus seiner Zeit in der Softwareentwicklung. Vor seiner Ernennung zum Geschäftsführer der IBM Österreich leitete Porak den Technologiebereich von IBM Österreich und unterstützte Kunden bei der digitalen Transformation. In seiner Zeit bei IBM hatte der Wiener bereits eine Reihe von Managementpositionen inne, darunter Sales Leader für den öffentlichen Sektor, den Finanzdienstleistungssektor, Global Offering Manager für Enduser Services Offerings und Leader of Global Platform Development Center Offering, beide im IBM-Dienstleistungsgeschäft.