Bildung statt Ausbildung

NEW BUSINESS Guides - BILDUNGS- & KARRIERE-GUIDE 2020
Die großen Fortschritte der Menschheit entstehen durch Kooperation, nicht durch Konfrontation. © Mediamodifier/Pixabay

Bildung ist der Ausweg aus dem selbst verschuldeten Fokus auf das Lernen von Daten und Fakten.

Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt war der letzte sogenannte Universalgelehrte – also jemand, der die Grundzüge des gesamten Wissens seiner Zeit in sich vereinigen konnte. Er starb 1859. Seit über 160 Jahren müssen wir mit der Tatsache leben, dass es einfach unmöglich ist, alles zu „wissen“.
Der Abstand zum Anspruch des Universal­wissens wird außerdem exponentiell größer. Wir müssen und dürfen davon ausgehen, dass sich das weltweit verfügbare Wissen in Halbjahresschritten verdoppelt. Und ohne jede Panik sollten wir uns daran gewöhnen, dass die pure Ansammlung von Fakten von einer App erheblich schneller und umfassender erledigt werden kann, als es selbst der intelligenteste und lern­fähigste Mensch auf die Reihe kriegt. Deshalb alarmieren und ermutigen Studien, dass die Menschheit sich darauf einstellen sollte, kreative und empathische Fähigkeiten auszubauen, anstatt stur Zahlen und Daten (auswendig) zu lernen.

Digitalisierung als Herausforderung
Wenn die Digitalisierung auf jeden Fall einen ganz bestimmten Effekt haben wird, dann diesen: Es wird zu einer rasanten und robusten Trennung zwischen Datenschnelligkeit und Empathiefähigkeit kommen. Wenn die Menschen sich auf das Duell auf dem Datenhighway einlassen möchten, sollten sie besser gar nicht antreten. Unsere einzige Chance (und das ist die beste, die es geben kann!) besteht darin, zu lernen, wie wir den Anschluss an Ethik, Moral, Gewissen, Gefühle (wieder)herstellen, damit wir so etwas „Seltsames“ wie ein anständiges, empathisches, solidarisches und (aufeinander) achtsames Leben führen können.
Im Duell der Daten werden wir den Kürzeren ziehen. So gnadenlos, dass wir uns bereits in wenigen Jahren voreinander schämen werden, wie uns der Trugschluss dieses Duells überhaupt passieren konnte. Das beginnt bereits bei der Sprache. Wenn Verantwortliche in Regierungen davon reden, dass die Bildungseinrichtungen Absolventen „produzieren“, dann möchte ich jedenfalls nicht, dass meine Enkelkinder mit der Konfektionsware einer Schraubenfabrik gleichgesetzt werden.
Mit großer Liebe und ein bisschen Wehmut denke ich an meinen Philosophieprofessor im Linzer Gymnasium, der mit unbeugsamer Klarheit feststellte, dass der Bauer, der seine Besucher an der Schwelle seines Hofs mit Brot und Salz begrüßt, mehr Bildung hat als der Atomphysiker, der – wissend, was damit geschehen wird – die Wasserstoffbombe konstruiert.

Lernen für neue Fähigkeiten
Und ich zitiere mit Leidenschaft den großartigen Peter Senge, der „Lernen“ nicht als Ansammlung von Wissen, sondern als den „gemeinsamen Erwerb neuer Fähigkeiten“ bezeichnet. Diese Erkenntnis wird ganz aktuell von Yuval Noah Harari ergänzt und wunderbar aufgeladen, indem er feststellt, dass die großen Fortschritte der Menschheit eben nicht aus der Konfrontation, sondern aus der Kooperation entstanden sind. Eine sehr inspirierende Mahnung an alle, die lustvoll glauben, der Krieg sei der Vater aller Dinge.
Diesen Unterschied zu „lernen“ und für das Leben anwendbar zu machen: Das sollte Bildung sein. Denn dann „wissen“ die Menschen, was Solidarität ist, sie „spüren“ die ethische Nähe von Solidarität und Nächstenliebe, und sie verursachen kein Entweder-oder mehr zwischen Religions- und Ethikunterricht, sondern streben ein Sowohl-als-auch an.
In diesem Zusammenhang möchte ich in der Folge aus einem einzigartigen Buch zitieren, das mich durch die Zeit des Corona-Lockdowns begleitet hat und so viele Fenster in mir geöffnet hat: „Bildung – eine Anleitung“ von Jan Roß.

Bildung – eine Anleitung
„Bildung heißt nicht, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzutrainieren, sondern sich einer Gemeinschaft anzuschließen, einer Schwestern- und Bruderschaft.
Der schlimmste Feind, der eigentliche Gegensatz des gebildeten Menschen, ist nicht der Barbar, es ist der Spießer, der alles schon zu wissen meint und selbstzufrieden in seinem Denken und Dasein ruht. Bildung bedeutet Horizonterweiterung, sie bricht den Seelenkäfig der Phantasielosigkeit auf, die sich keine andere Welt und keine andere Weltsicht als die eigene vorstellen kann.
Bildung macht uns nicht automatisch zu guten Menschen. Aber schlecht zu sein, nämlich engherzig und selbstgerecht, das macht sie ein ganzes Stück schwerer.
Und das ist eine große Sache.
Bildung konfrontiert uns mit Problemen, von denen nicht schon dauernd im Fernsehen die Rede ist. Sie bringt uns mit Ideen und Leuten zusammen, die uns keineswegs von vornherein vertraut und sympathisch sind und die wir uns selbst als Gesellschaft vielleicht gar nicht ausgesucht hätten – von den aggressiven Helden Homers bis zu den nervösen Heldinnen von Virginia Woolf. Genau dieser Zwang zur Selbstüberschreitung, zum Verlassen der eigenen Bequemlichkeitszone und zum Sicheinlassen auf das Unbehagliche ist der, wenn man so reden will, moralische Effekt der Bildung.“ Zitat Ende.

Es könnte alles auch ganz anders sein
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Bildung der Schlüssel zum Ausbruch aus der Komfort­zone unserer festgefügten Bilder und Vorurteile ist. Bildung fördert den Verdacht, es könnte alles auch ganz anders sein.
Bildung ohne Empathie – das Sicheinfühlen in den anderen Menschen – ist eine hohle Attrappe, die uns zu Kreuzworträtselkönigen macht, die aneinander Vorbeischauen und Vorbeileben lässt. Bildung produziert keine ausgebildeten Funktionsgeräte, die aussehen wie Menschen. Bildung verursacht Menschlichkeit.
Dann wird der große Aufklärer Kant aus dem Abglanz des ewigen Lichts erfreut feststellen dürfen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der be­stirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (HS)

INFO-BOX
Über den Autor Dr. Hannes Sonnberger
Hannes Sonnberger war viele Jahre in führenden Positionen in Werbeagenturen tätig.
Seit 2005 arbeitet er als ­zertifizierter Business-Coach mit den Schwerpunkten Führung, Konfliktmanagement, Burnout-Prophylaxe und Teamarbeit.