Trotz vieler Unsicherheiten bietet Nachhaltigkeit echte wirtschaftliche Chancen. © Freepik/danmir12
Ein langer Weg vom Schlagwort der Achtzigerjahre bis in die Gegenwart: Nachhaltigkeit ist längst kein Marketing-Gag mehr. Was mit den ESG-Vorgaben allerdings zunimmt, sind Verantwortung und Aufwand.
Dass darin aber auch zahlreiche Chancen liegen, ist die positive Nachricht.
Wenn jemand einen guten Einblick in die Thematik hat, dann ist es wohl Anne Marchal. Sie ist Senior Solution Consultant beim Digital-Engineering-Dienstleister Tietoevry Austria und bringt die momentane Stimmung auf den Punkt: „Unsicherheit und Frustration. Das sind die zwei Themen, die in aktuellen Gesprächen mit Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) vorkommen.
Mit der Neuregelung der ESG-Reporting-Vorschriften auf EU-Ebene und dem Omnibusverfahren stehen viele Unternehmen vor der Frage, welche Strategie am besten geeignet ist, um auf die unklaren regulatorischen Anforderungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung vorbereitet zu sein“, erklärt sie. Denn zumindest drei Stolpersteine liegen im Weg – wie etwa die Anpassung der Schwellenwerte. „Das Europäische Parlament und die EU-Kommission sind sich uneinig, wie die Mitarbeiter:innen- und Umsatzgrenzen zu definieren sind.“
Verständliche Unsicherheit
„Das ‚Stop the clock‘-Verfahren sorgt ebenfalls für Verwirrung, insbesondere für Unternehmen mit Tochtergesellschaften in anderen EU-Ländern, da bereits in Kraft getretene Gesetze zum Thema ESG-Berichterstattung – überall außer in Österreich und Deutschland – noch abgeschafft werden sollten, damit die Berichtspflicht für Unternehmen aus den Wellen 2 und 3 tatsächlich für zwei Jahre verschoben wird.“ Außerdem sollen von den ursprünglichen 1.500 Datenpunkten zwei Drittel wegfallen und der Fokus nun auf quantitativen Datenpunkten liegen.
Auch werden die Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESRS) überarbeitet, um klarere Vorgaben und Kohärenz mit anderen Regelwerken zu gewährleisten. „Seit der Erstveröffentlichung der CSRD und ESRS wurden aber bei vielen Unternehmen aufwendige Prozesse gestartet, um die erforderlichen Daten zu sammeln, die jetzt vielleicht nicht mehr notwendig sein werden. Was nun? Eine berechtigte Frage angesichts der aktuellen Rechtslage“, kann Marchal Unsicherheiten nachvollziehen.
Chance zur Transformation
Florian Iro, Geschäftsführer der Erdal GmbH in Hallein, sieht aber trotz aller Unsicherheiten die echten wirtschaftlichen Chancen der Nachhaltigkeit: „Während das österreichische BIP sinkt, ist die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie seit 2015 rückläufig. Wir befinden uns mitten in einer Transformationskrise. Angesichts entmutigender Budgetzahlen verliert das Zukunftsthema Nachhaltigkeit an Bedeutung. Das ist fatal, denn aus meiner Sicht führt kein Weg an einer nachhaltigen Transformation vorbei. Um zukunftsorientierte Lösungsansätze zu schaffen, müssen wir den Begriff der Nachhaltigkeit in konkrete Handlungsfelder übersetzen. Und wir müssen die wirtschaftlichen Vorteile in den Vordergrund stellen. Angesichts von Rohstoffknappheit und in Hinblick auf Ressourceneffizienz ist die Kreislaufwirtschaft aktuell der größte Hebel, um unser Wirtschaftssystem nachhaltig zu gestalten und den europäischen Standort langfristig zu sichern.“
Faktor Zukunftssicherheit
Bei Kreislaufwirtschaft denken die meisten Menschen an Recyclingtonnen, Umweltauflagen und Bürokratie. „Kreislaufwirtschaft ist kein Nice-to-have, sondern eine wirtschaftliche Strategie für Standort- und Versorgungssicherheit. Denn wenn wir Rohstoffe neu denken, erlangt Europa wieder die Kontrolle über die benötigten Ressourcen. Mit einem Wirtschaftssystem, das weitgehend unabhängig vom globalen Wettbewerb um Rohstoffe funktioniert, schaffen wir unternehmerische Freiheit und Aufschwung.
Kreislaufwirtschaft bedeutet, die strategische Autonomie zurückzugewinnen – nicht durch Abschottung, sondern durch Effizienz“, ist sich Iro sicher. Denn in vielen Industriebranchen benötigen remanufakturierte Bauteile 60 bis 80 Prozent weniger Energie und Material als ein neu produziertes Bauteil. „Und ganz nebenbei machen wir mit der Kreislaufwirtschaft einen großen Schritt in Richtung nachhaltige Transformation.“
Transparenz und Vertrauen
Anne Marchal sieht ebenso die Vorteile der ESG-Datensammlung abseits regulatorischer Anforderungen: „Auch wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen der CSRD im Zuge des EU-Omnibusverfahrens derzeit noch in Bewegung sind, lohnt es sich für Unternehmen trotzdem, die ESG-Datensammlung systematisch aufzubauen. Dabei geht es um Transparenz und Vertrauen. Eine solide ESG-Datenbasis stärkt die Glaubwürdigkeit gegenüber Investoren, Kunden und Partnern.“ So erklärte erst diesen Oktober ein Pariser Gericht in einer wegweisenden Entscheidung, dass TotalEnergies, einer der größten Mineralölkonzerne weltweit, Verbraucherinnen und Verbraucher durch Werbung irreführt, indem es sich als „großen Akteur der Energiewende“ darstellt, obwohl das Unternehmen weiterhin Investitionen in fossile Brennstoffe ausweitet.
Das Gericht befand, dass TotalEnergies trotz der ambitionierten Zielsetzung zur CO₂-Neutralität bis 2050 seine Produktion von Öl und Gas nicht reduziert, sondern im Gegenteil weiter steigert. „Die Werbung des Unternehmens wurde als rechtswidrig eingestuft: Innerhalb eines Monats muss TotalEnergies die beanstandete Werbung stoppen und das Urteil für 180 Tage prominent auf seiner Website anzeigen. Andernfalls droht eine tägliche Geldstrafe von 10.000 Euro. Ähnliche Marketing- und Werbeaussagen von anderen Unternehmen könnten künftig ebenfalls juristisch infrage gestellt werden und erhebliche finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen“, sagt Marchal.
Vier Jahrzehnte als Öko-Pionier
Von den Machenschaften eines internationalen Ölkonzerns ist die Firma Erdal nicht nur weit entfernt, sie zählt vielmehr seit langer Zeit zu den heimischen Pionieren der Nachhaltigkeit. Damals hieß es noch „öko“, aber der Grundgedanke hat die Jahrzehnte überdauert. „Vor dem Hintergrund diverser Umweltkatastrophen in den 1980ern waren die Menschen sensibilisiert, und der Zeitgeist verlangte nach einem Umdenken. Der Umweltschutz hat an seiner Aktualität nichts eingebüßt – im Gegenteil. Hinzugekommen sind aber wirtschaftliche Argumente, die abseits von grünen Ideologien den Weg klar vorgeben“, erläutert Florian Iro – und sieht drei Argumente: „Österreich importiert rund 75 Prozent seiner Primärrohstoffe, viele aus geopolitisch instabilen Regionen. Mit Kreislaufwirtschaft – also durch Wiederaufbereitung, Reparatur, längere Produktlebensdauer – schaffen wir eine eigene Rohstoffbasis. Das reduziert Abhängigkeiten und stärkt die Resilienz der Wirtschaft.“
Auch Kosten- und Risikoabsicherung sei seiner Meinung nach ein nicht zu unterschätzender Faktor: In der produzierenden Wirtschaft machen Materialkosten über 40 Prozent der Gesamtkosten aus, deutlich mehr als die benötigten Energiekosten. Unternehmen, die ihre Stoffströme im Kreis führen, senken nicht nur Kosten, sondern auch Preisrisiken, die durch internationale Lieferketten verursacht werden. So wird die Kreislaufwirtschaft zu einem unternehmerischen Instrument der Kostenstabilität. Und nicht zuletzt ist auch die Wertschöpfung und Beschäftigung in Europa ein Argument. „Der Wertschöpfungsexport durch lineare Lieferketten ist kein Zukunftsmodell. Wir haben jetzt die Chance auf ein Backshoring, also die Rückverlagerung von Wertschöpfungsprozessen.
Kreislaufwirtschaft bringt Arbeitsplätze und Know-how zurück nach Europa. Damit sichern wir Qualität, stellen Versorgungssicherheit her und stärken die Nachhaltigkeit. Darüber hinaus entstehen neue Jobprofile wie Reparaturdienstleistungen, Materialaufbereitung, Produktdesign für Kreisläufe, Re-Use-Engineering. Besonders für den Mittelstand und das Handwerk ergeben sich neue Chancen und Möglichkeiten. Die Zukunft liegt nicht nur in neuen Produkten, sondern im intelligenten Umgang mit bestehenden Materialien“, sagt Iro.
Daten als strategisches Asset
Nachhaltigkeit ist also nicht nur eine Frage der Einhaltung von Vorschriften. Es geht darum, ESG-Daten zu nutzen, um bessere Geschäftsentscheidungen zu treffen und langfristig Wert zu schaffen. „Diese Daten können als strategisches Asset betrachtet werden. Durch die Analyse von Klimarisiken, Ressourcennutzung und Nachhaltigkeitsleistung können Unternehmen betriebliche Ineffizienzen identifizieren, die Resilienz der Lieferkette stärken und natürlich Kosten aus dem Energie- und Wasserverbrauch oder dem Abfallmanagement optimieren. Die eigentliche Frage ist nicht, ob die ESG-Berichterstattung verschwinden wird, sondern vielmehr: Wie schnell verstehen Unternehmen die Notwendigkeit, sich anzupassen und ESG über die reine Berichterstattung hinaus zu einem Kernbestandteil ihrer Strategie zu machen“, ist Anne Marchal überzeugt.
Die Zukunft gestalten
Auch Florian Iro rät dazu, den Blick nach vorn zu richten: „Anstatt auf die Versäumnisse der Vergangenheit zu schauen, sollten wir über Zukunftsstrategien sprechen – die gezeigt haben, dass sie funktionieren. Für viele Themen wie Design for Circularity, Materialeffizienz, Nutzung von Sekundärrohstoffen etc. stehen bereits Ressourcen zur Verfügung. Unternehmen können eine Vielzahl von Tools wie den Kompass Kreislaufwirtschaft nutzen. Plattformen wie das Ressourcen Forum Austria informieren und initiieren Projekte. Die Politik ist gefragt, planbare Rahmenbedingungen zu schaffen.“
Die aktuell kurzfristige Förderlogik führe seiner Meinung nach zu keinem Wandel, stattdessen brauche es gezielte Investitionsanreize für Rückführungsprozesse. Österreich müsse im Einklang mit der Europäischen Union eine Rohstoffstrategie 2.0 ausarbeiten, deren Kern die Kreislaufwirtschaft ist. „Und natürlich braucht es einen Bürokratieabbau für Unternehmen – gerade für jene, die in Kreisläufe investieren. Wir brauchen keine Verbote von nicht zirkulären Materialien, sondern Verlässlichkeit für eine ökonomische Ressourcenwende. Wenn wir uns nicht nur auf die Ideologie, sondern auf wirtschaftliche Fakten konzentrieren und das Ökosystem Kreislaufwirtschaft verstehen, können wir Österreich und Europa zukunftssicher gestalten. Das gelingt aber nur, wenn Unternehmen, Verbraucher:innen und Konsument:innen den wirtschaftlichen Vorteil verstehen und mitmachen. Das Ziel ist klar: eine lebenswerte Zukunft für uns und alle folgenden Generationen.“ (PZ)
INFO-BOX
Sammlung und Analyse von ESG-Daten
Datenanalyse: Das Verständnis historischer Wettermuster und aktueller Trends hilft, zukünftige Risiken vorherzusagen.
Szenarioprognosen: Die Entwicklung verschiedener Klimaszenarien bereitet Unternehmen auf unterschiedliche Entwicklungen vor (Überschwemmungen, Dürren, Energieknappheit) und hilft, potenzielle Störungen abzumildern.
Risikomanagement: Die Implementierung robuster, auf klimabedingte Bedrohungen zugeschnittener Risikomanagementstrategien sichert Geschäftskontinuität und Resilienz. Unternehmen, die ESG-Informationen systematisch erfassen, schaffen damit die Grundlage für eine gezielte und vorausschauende Steuerung und solides Risikomanagement. Sie können zunehmend zu einem kontinuierlichen Steuerungsinstrument mit Einblicken in ökologische und soziale Leistungskennzahlen werden, vorausgesetzt, die Daten sind monatlich, wöchentlich oder täglich verfügbar.
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